„Willkommenskultur“ und „Menschenhandel“ in einem Atemzug zu nennen, scheint auf den ersten Blick irritierend. Doch wenn man den Fokus unserer Dossier-Reihe „Migration – Arbeit – Menschenrechte“ anlegt, sieht die Sache schon etwas anders aus. Wir kommen dann auf eine der Ausgangsfragen der Dossier-Reihe zurück: Wie kann eine Willkommenskultur aussehen, die die Arbeits- und Menschenrechte aller Menschen in der Bundesrepublik gewährleistet?
Bei Menschenhandel denken viele zunächst an Zwangsprostitution. Doch seit dem Palermo-Protokoll aus dem Jahr 2000 gibt es eine verbindliche internationale Definition, die weiter gefasst ist. Unter Menschenhandel fallen demnach auch Zwangsarbeit und extreme Arbeitsausbeutung, Organhandel oder Kinderhandel.
Menschenhandel ist eines der lukrativsten kriminellen Geschäfte weltweit. Die Schätzungen zum Gesamtausmaß und nachweislich vorliegende Zahlen gehen weit auseinander. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass es allein in der Europäischen Union 880.000 Opfer von Menschenhandel gibt. 30 Prozent davon seien Opfer sexueller Ausbeutung, 70 Prozent von Arbeitsausbeutung.
Zu statistisch nachweisbaren Opferzahlen hat die EU 2014 folgende Angaben veröffentlicht:
In den Jahren 2010-2012 gab es 30.146 Opfer von Menschenhandel, davon 80 Prozent Frauen (67) und Mädchen (13), 20 Prozent Männer (17) und Jungen (3). Davon waren 67 Prozent Opfer sexueller Ausbeutung, 19 Prozent Opfer von Arbeitsausbeutung und die übrigen 12 Prozent Opfer anderer Formen von Menschenhandel, zum Beispiel Organhandel.
Es gibt in Deutschland keine seriösen Schätzungen zum Gesamtausmaß von Menschenhandel. Das BKA veröffentlicht jährlich das Bundeslagebild Menschenhandel. Doch Expert_innen sind sich einig, dass es ein großes Dunkelfeld und deutlich mehr Betroffene gibt. Obwohl es im Strafgesetzbuch Paragraphen zur Ahndung von Menschenhandel (§ 232 und § 233) gibt, kommt es vor allem im Bereich der Arbeitsausbeutung relativ selten zu Ermittlungsverfahren und Gerichtsverhandlungen. Wo die Gründe dafür liegen, beleuchtet unser Dossier aus verschiedenen Blickwinkeln.
Das Dossier nähert sich dem Thema „Menschenhandel“ über drei Kapitel: der erste Teil widmet sich europa- und bundespolitischen Aspekten, der zweite Teil fokussiert den „Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ und der dritte Teil den „Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung“.
Das Dossier stellt die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen und den Opferschutz in den Mittelpunkt. Es beleuchtet auch die Frage, wie Faktoren wie Gender, ethnische Herkunft/ Staatsangehörigkeit und Lebensalter Menschen verletzlich dafür machen, Betroffene von Menschenhandel zu werden und gleichzeitig den (oft mangelnden) Zugang zu Hilfe, Recht und Entschädigung beeinflussen. Folgende Leitfragen begleiten uns:
- Die EU-Richtlinie 2011/36/EU sieht ein integriertes, ganzheitliches und menschenrechtsbasiertes Vorgehen bei der Bekämpfung des Menschenhandels vor – wie könnte ein solches Vorgehen in Deutschland konkret aussehen?
- Wie ist derzeit die Situation der Betroffenen?
- Wie unterscheiden sich Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung und zur sexuellen Ausbeutung, auch unter Genderaspekten?
- Was müsste geschehen, damit Betroffene zu ihrem Recht kommen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?
- Welche gesetzlichen Änderungen sind nötig – im Aufenthaltsrecht, beim Zugang zum Recht und in der Strafverfolgung?
Beiträge aus Politik, Wissenschaft, Projekt- und Beratungsarbeit umkreisen nicht nur die Frage, wie Täter_innen besser zur Rechenschaft gezogen und Betroffene geschützt werden können. Sie stellen auch die Frage, welche Rahmenbedingungen eigentlich dazu führen, dass ein Großteil der Betroffenen von Menschenhandel Migrant_innen sind. Ein Stichwort ist die deutsche und europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik, ein anderes die Prekarisierung vieler Arbeitsverhältnisse, von der nicht nur, aber vor allem auch Migrant_innen betroffen sind.